Hilal

Der wirbelnde Wind ist nicht frostig, er ist einfach nur kalt.
Von der Sorte, die sich in jede kleine Lücke im Textilstoff frisst und Unbehagen bereitet.
Taube Hände rollen zitternd das dünne Papier und führen das Endprodukt zu den inzwischen kalt und trocken gewordenen Lippen. Ein Klicken, flackernder Feuerschein, ein tiefer Atemzug und warmer Rauch zieht in den Körper. Durchflutet die schon abgehärteten Lungenflügel. Die Zeit steht still, selbst der Wind scheint in diesem Moment abzuflauen.
Beim ausatmen beginnt blaugrauer Rauch im Wind zu tanzen, kleine dünne Fäden aus Rauch wirbeln, verwirbeln, verblassen und werden schließlich ihrer Existenz beraubt.
Aber was ist schon Existenz.

Die kalten Treppenstufen kühlen den Körper langsam aus, der Wind wirkt durch die Nähe zum Fluss nun doch beinahe eisig. Müll und Äste treiben dahin, suchen sich ihren Weg um irgendwann in naher Zukunft in den Ozean gespült zu werden und sich in menschenfernen Gebieten riesigen Müllteppichen anzuschließen.
Der Wind schiebt die Wolken am Himmel zügig Richtung Horizont und langsam tritt er aus seiner Deckung hervor. Eine Lichtgestalt in Silber und Gold.
„Hallo alter Freund, schön dich zu sehen.“
Schweigen als Antwort. Er war noch nie ein Freund vieler Worte. Doch er hört zu, immer.
Eine willkommene Abwechslung in einer Welt in der jeder, ob groß ob klein, jung oder alt, komplex oder simpel, doch immer mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat.
Ein unparteiischer Zuhörer der Tag für Tag seinen einstudierten Abläufen nachkommt. Ohne zu meckern, ohne Urlaub, ohne aus dem Takt zu kommen. Jemand der nicht verurteilt.
Das Licht, dass man manchmal so dringend benötigt aber vergeblich sucht.

Und ich rede. Ich erzähle ihm von meinen Problemen, den Wünschen, Hoffnungen. Wie viele Ängste mich bedrücken und wovon ich träume.
Gelegentlich halte ich inne um die Gedanken zu sammeln und im Kopf aus zu formulieren, doch in einem Gespräch mit ihm gibt es keinen Zeitdruck, keine verwirrten Blicke wenn ich erst denke und dann spreche. Er ist Geduldig, nimmt sich die Zeit von der ich immer glaube viel zu wenig zu besitzen. Aber Zeit kann man nicht besitzen. Man kann sie nicht in Verträgen versklaven und festlegen wie viel davon pro Tag wofür verwendet wird.
Das kann man nur mit Menschen.
Die Stimme, durch die trockene Kehle und das viele Reden schon angeraut, murmelt ein paar abschließende Gedanken. Als ich Ende fühle ich mich leer. Leer, aber befreit, erleichtert und irgendwie auch glücklich.
Der Wind ist nun nicht viel mehr als ein Säuseln in den Ästen, den Blättern und Sträuchern.
Diesmal zieht der Rauch kleine Kreise die sich irgendwann im Nichts verlieren.
Aber was ist schon „Nichts“ .

Am Himmel sind aufgrund der Lichtverschmutzung nur einige wenige Sterne zu sehen. Eine große Wolkenformation schiebt sich langsam hinter den Kronen einiger breitstämmiger hochgewachsener Eichen hervor.
Er lächelt mir zu und ich weiß: Er hat mich verstanden.
Wortlos verabschieden wir uns, dann verschwindet er lautlos in der Nacht.

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